Prof. Dr. med. Mathias Pletz ist Direktor des Instituts für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene des Universitätsklinikums Jena.
Haben Sie sich impfen lassen? Und wenn ja: aus welchem Grund?
Ja, ich habe mich impfen lassen, um mich und andere zu schützen. Ich habe mich auch sehr früh impfen lassen, weil ich damit zeigen wollte, dass ich den Impfungen vertraue.
Mit nun Millionen Geimpften: Welche neuen Erkenntnisse für Corona-Schutzimpfungen konnten aus den Daten und aktuellen Studien abgeleitet werden?
Vieles war neu, darum war die Skepsis am Anfang groß. Jetzt sehen wir, dass die Impfstoffe sehr sicher sind. Vektor-Impfstoffe gab es ja schon in der Vergangenheit z. B. bei der Ebola-Epidemie in West-Afrika, wo sie erfolgreich eingesetzt wurden. Aber die mRNA-Impfstoffe waren wirklich ganz neu. Man muss generell sagen, dass Impfstoffe zu den sichersten und am besten untersuchten medizinischen Produkten zählen, weil die Sicherheitsanforderungen an einen Impfstoff höher sind als zum Beispiel an ein Medikament. Ein Medikament verabreiche ich Erkrankten, um sie zu heilen – einen Impfstoff gebe ich hingegen gesunden Menschen und da ist die Nutzen-Risiko-Abwägung eine andere und die Sicherheitsanforderungen sind höher. Deshalb werden bei klinischen Studien zum Beispiel zu neuen Antibiotika meist nur 600 bis 1.000 Teilnehmer eingeschlossen. Bei Impfstoffstudien liegt die Teilnehmerzahl bei mindestens 10.000 bis zu 80.000, weil man auch sehr seltene Nebenwirkungen erkennen möchte.
Generell kann man sagen, dass die COVID-19-Impfstoffe die bislang am besten untersuchten Impfstoffe in der Geschichte der Medizin sind, denn noch nie wurden so viele Menschen in einem so kurzen Zeitraum geimpft und Nebenwirkungen dabei so akribisch überwacht. Die nun entdeckten, extrem seltenen Nebenwirkungen, wie die Herzmuskelentzündung (Myokarditis) v. a. bei jungen Männern und die Sinusvenen-Thrombose bei AstraZeneca bei jüngeren Frauen, waren so selten, dass sie nicht einmal bei den o.g. Zulassungsstudien aufgefallen sind. Hinzu kommt, dass die Wahrscheinlichkeit, eine dieser Komplikationen durch die natürliche Infektion zu erleiden, um ein Vielfaches höher ist: fünf Fälle von Sinusvenenthrombose auf eine Million AstraZeneca-Impfungen gegenüber 39 auf eine Million COVID-19-Infektionen.
Gleiches gilt für die Myokarditis. Es gibt sehr gute Risikoabwägungen, die man auch im Internet finden kann. Die Abbildung ist ein Beispiel. Selbst für die jungen Menschen von 12 bis 15 Jahren, die ein sehr niedriges Risiko für eine schwere COVID-Erkrankung haben und bei denen das Risiko für eine Herzmuskelerkrankung am höchsten ist, profitieren noch von der Impfung. Nicht nur, um andere zu schützen, sondern auch individuell. Weil eben Krankenhausaufnahmen und schwere Verläufe selbst in dieser Altersgruppe noch um Faktor 10-100 häufiger auftreten als zum Beispiel eine Myokarditis – die in den meisten Fällen übrigens sehr leicht verlaufen ist.

Viele Menschen sind skeptisch und meinen, dass die Impfungen zu schnell entwickelt worden seien. Bei der Sicherheit wurden jedoch keine Abstriche gemacht. Es wurden lediglich Prozesse optimiert und verkürzt, zum Beispiel wurde mit den Phase- 3-Studien begonnen, bevor die Phase-2-Studie komplett ausgewertet war. Die Zulassungsbehörden wurden außerdem permanent in den laufenden Prozess einbezogen und die Bearbeitungsfirsten der Behörden stark verkürzt. Es ist alles vorschriftsmäßig, aber zeitoptimiert abgelaufen. Es sind außerdem keine Impfnebenwirkungen aus der Geschichte bekannt, die ein Viertel- bis halbes Jahr später aufgetaucht sind, spät auftretende Nebenwirkungen sind daher aus meiner Sicht kein reales Risiko.
Was sagen Sie Studierenden, die noch zögern, sich impfen zu lassen?
Ich würde zur Impfung raten, aus verschiedenen Gründen: Zum einen aus Eigenschutz. Es gibt Daten, die zeigen, dass die Delta-Variante zu schwereren Verläufen führen kann im Vergleich zu anderen Varianten. Zum anderen sind die Impfungen sehr sicher. Das Risiko für Komplikationen ist unter einer natürlichen Infektion um ein Vielfaches höher als bei der Impfung – auch bei jungen Menschen.
Außerdem kann man sich einer Infektion in den nächsten Monaten nicht entziehen. Dieses Virus wird nicht mehr verschwinden und früher oder später werde ich eine natürliche Infektion erleiden, wenn ich nicht geimpft bin.
Die Impfung reduziert das Risiko einer Infektion, aber wir wissen, dass es keinen hundertprozentigen Schutz vor Ansteckung gibt. Die Impfung bringt aber in jedem Fall etwas, weil bei einer Infektion das Immunsystem schneller startet und den Erreger schneller eliminieren kann. Daher sind sogenannte „Durchbruchsinfektionen“ (Infektion trotz Impfung) in der Regel symptomlos oder sehr mild. Auch die Übertragungsgefahr, die von einem infizierten Geimpften ausgeht, ist um ein Vielfaches niedriger als bei einem Nicht-Geimpften.
Gibt es wirklich gute Gründe, sich NICHT impfen zu lassen?
Der einzige medizinische Grund, sich nicht impfen zu lassen ist, wenn z. B. nach der ersten Impfung ein allergischer Schock aufgetreten ist. Jedenfalls sollte man anschließend nicht mit dem gleichen Impfstoff impfen, sondern ggf. zu einem anderen Impfstoff wechseln.
Helfen die in Deutschland eingesetzten Impfstoffe auch gegen die neuen SARS-CoV-2-Varianten (z. B. Delta, Lambda etc.)?
Das ist eine Frage, die ich nur spekulativ beantworten kann. Was wir bisher wissen, ist, dass die Impfungen gegen die Delta-Variante schützen. Nicht so gut, wie sie gegen die Alpha-Variante geschützt haben, aber sie vermitteln immer noch einen Schutz vor symptomatischen und v. a. vor schweren Verläufen. Und wir wissen, dass mit Delta Infizierte das Virus deutlich seltener übertragen, wenn sie geimpft waren, weil die erreichten Viruslasten nicht ganz so hoch sind und weil die Dauer der Virusausscheidung massiv verkürzt wird.
Bei den anderen Varianten wissen wir, das Beta z. B. einen starken Escape-Mechanismus hat, d. h. sie kann sich den Impfstoffen stärker entziehen als Delta. Aber auch hier gab es in Studien noch eine Schutzwirkung vor schweren Verläufen. Die Lambda-Variante kann sich den Impfstoffen ebenfalls stärker entziehen, als es die Delta-Variante kann, aber auch hier gehen wir momentan davon aus, dass die Impfungen vor schweren Verläufen schützen.
Wie gefährlich wird es für Nicht-Geimpfte?
Auch das kann man nur spekulativ beantworten. Wir wissen, dass einige der Varianten tatsächlich schwerere Erkrankungen hervorrufen können und wir sehen in verschiedenen Ländern, dass auch jüngere Ungeimpfte bei den COVID-19 bedingten Krankenhauseinweisungen überrepräsentiert sind.
Erwarten Sie, dass es noch weitere Impfstoffe als bisher geben wird? Wenn ja, was sollte ein neuer Impfstoff zusätzlich bewirken?
Es gibt schon weitere Impfstoffe, die wahrscheinlich bald verfügbar sind. Zum Beispiel soll im letzten Quartal 2021 eine Protein-basierte Vakzine, vom Wirkmechanismus ähnlich wie bei der Hepatitis-B-Impfung, zugelassen werden. Das könnte eine Option für Menschen sein, die trotz aller Daten den mRNA Impfstoffen nicht vertrauen.
Ich persönlich finde allerdings, dass mRNA-Impfstoffe schon eine medizinische Revolution und einen riesigen Schritt nach vorne darstellen, weil wir diesen Impfstoff sehr schnell an neue Varianten anpassen können. Außerdem sind Kombinationsimpfungen, z. B. Influenza und COVID-19, vorstellbar.
Das Besondere an den mRNA-Impfstoffen ist, dass sie dem Immunsystem eine natürliche Infektion vorspielen. Die mRNA wird durch die Nanopartikel in die Zelle gebracht und dort in ein Protein umgewandelt. Dieses Protein zeigt die Zelle dem Immunsystem und das Immunsystem reagiert darauf. Der einzige Unterschied zu einer natürlichen Infektion besteht darin, dass nur ein Bestandteil des Virus gezeigt wird und eben nicht das komplette Virus – deswegen ist die Impfung auch für immungeschwächte Menschen sicher, weil kein vermehrungsfähiges Virus entstehen kann. Aber weil die Art und Weise, wie das Virus-Spike-Protein dem Immunsystem präsentiert wird der natürlichen Infektion ähnelt, scheint hier die Immunantwort sehr gut zu sein.
Was raten Sie internationalen Studierenden oder Gästen in Deutschland, die mit Impfstoffen, die bei uns üblicherweise nicht eingesetzt werden, geimpft wurden?
Das betrifft v. a. den chinesischen und den russischen Impfstoff. Der chinesische Impfstoff gilt als weniger effektiv gegen Delta-Infektionen – in einer Studie zu 51 Prozent. Aktuelle Daten zeigen aber ebenfalls einen hohen Schutz vor schweren Verläufen. Für den russischen Impfstoff zeigt eine aktuelle Studie 83 Prozent Schutz vor Delta. Ob eine zusätzliche Impfung mit einem mRNA-Impfstoff erforderlich wird, wissen wir derzeit noch nicht. Auf jeden Fall ist aber wichtig, dass eine zweimalige Impfung stattgefunden hat, denn der Schutz einer einmaligen Impfung gegenüber Delta ist deutlich reduziert.
Und was halten Sie von einer dritten bzw. Auffrischungs-Impfung im kommenden Herbst/Winter?
Ich glaube, dass wir diese Auffrischungsimpfung auf jeden Fall für bestimmte Menschen brauchen. Nämlich für Ältere und für Menschen mit Immunsuppression. Diese Gruppen brauchen eine dritte Impfung – vielleicht sogar noch in diesem Jahr. Ob wir generell für alle eine Auffrischungsimpfung im nächsten Jahr brauchen, vermag ich momentan nicht zu sagen. Eine große Studie dazu wird auch schwierig zu machen sein. Israel beginnt bereits, eine dritte Impfung schon in diesem Jahr für alle ab 60 anzubieten, das halte ich persönlich für ein pragmatisches und angemessenes Vorgehen.
Was erwarten Sie für den Herbst?
Da kann man nur spekulieren. Die neuen Virusvarianten haben viele komplexe Prognosen zunichte gemacht. Sie sind ein klassisches Beispiel für Evolution: sprunghaft und nicht gut vorhersagbar und kaum jemand hat diese Ausbreitungsgeschwindigkeit erwartet. Es ist faszinierend zu sehen – als Infektiologe ist man ja auch ein bisschen Evolutionsbiologe – wie schnell die neuen Varianten die alten verdrängt haben. Eine neue Variante kann so zusagen alles verändern.
Aber wenn es sich so weiterentwickelt, wie wir es momentan sehen, rechne ich mit einem deutlichen Wiederanstieg der Inzidenzen, vor allen Dingen bei den Ungeimpften. Und derzeit sind Ungeimpfte vor allem Kleinkinder und jüngere Menschen, die ein niedrigeres Risiko für einen schweren Verlauf haben. Das heißt, wir werden bei steigenden Inzidenzen keine Belastung des Gesundheitswesens in der Ausprägung sehen, wie wir es in der dritten Welle gesehen haben. Die Krankenhausaufnahmen werden der Inzidenz folgen, aber nicht mit dem gleichen Faktor wie in der dritten Welle, sondern auf niedrigerem Niveau. Dennoch muss man die Entwicklung hier sehr aufmerksam verfolgen, um ggf. frühzeitig zu reagieren. Denn wenn die Inzidenz bei ungeimpften Teenagern und jungen Erwachsenen sehr hoch wird, kann trotz des geringeren Risikos für schwere Verläufe die absolute Anzahl an schwer Erkrankten so hoch werden, dass das Gesundheitswesen wieder an seine Grenzen stößt.
Wann wird Corona nur noch ein Thema für Spezialistinnen und Spezialisten sein?
Ich glaube, nicht innerhalb der nächsten fünf Jahre. Das kann ich mir nicht vorstellen. Dieses Virus wird nicht verschwinden. Es wird uns nicht gelingen, wie bei den Pocken, dieses Virus komplett zu eliminieren.
Ich glaube, das Virus wird sich in den Kanon der Erkältungsviren des Winters einreihen und wir werden weiterhin – wenn auch seltener – schwere Verläufe sehen, auch noch nach fünf oder sechs Jahren, vor allem bei Ungeimpften.
Das Interview wurde geführt am 26. August 2021
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