Am 30. Juli ist Tag der Freundschaft. Im Interview erklärt der Persönlichkeitspsychologe Prof. Dr. Franz J. Neyer, was Freundschaften sind, welche Transformationen sie durchlaufen und wie Freundschaften zwischen Ländern, Städten und Universitäten aussehen können.

Herr Professor Neyer, was ist Freundschaft? Was macht Freundschaft aus?
Freundschaften sind freiwillige, informelle Beziehungen mit Personen, die etwa im gleichen Alter sind. Und sie haben in der Regel eine positiv bewertete Qualität. Sie beruhen auch auf Gegenseitigkeit – oder Reziprozität, wie wir sagen – sodass sich Geben und Nehmen im emotionalen, aber auch im instrumentellen Sinne die Waage halten. Meist beinhalten sie keine offen gelebte Sexualität und lassen sich in dieser Hinsicht auch von Partnerschaften abgrenzen. Sie unterscheiden sich auch von Verwandtschaftsbeziehungen oder auch anderen Beziehungen zwischen nicht verwandten Personen, die eher formalisierten Charakter haben, also eher durch soziale Rollen wie Vorgesetzter, Mitarbeiter, Arzt usw. definiert sind.
Aristoteles hat Freundschaften als Beziehungen unter Gleichen beschrieben, die auf Freiwilligkeit beruhen. Das ist das Besondere daran. Sie sind Beziehungen, die jenseits von Familie, Nachbarschaften oder Hierarchien im Arbeitskontext eingegangen werden.
Wie wichtig sind denn Freundschaften für uns als Menschen?
Freundschaften sind wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere im Jugendalter. Jugendlichen bieten sie Intimität und Vertrautheit. Mit Freunden tauschen sich Jugendliche in der Regel mehr und persönlicher aus als mit ihren Eltern. Sie dienen so der Ablösung von der Herkunftsfamilie und damit der Entwicklung der eigenen Identität. Und sie bereiten möglicherweise auf spätere Partnerschaften vor. Das ist die entwicklungspsychologische Funktion von Freundschaften im Jugendalter.
Freundschaften sind aber auch im gesamten Verlauf des Lebens wichtig, sie nehmen nur ab dem jungen Erwachsenenalter quantitativ gesehen ab. Wir haben also als Erwachsene weniger Freunde als Jugendliche oder junge Erwachsene. Das hängt damit zusammen, dass Menschen im Laufe des Lebens auch selektiver werden in der Auswahl von Freundschaften. Es bleiben dann nur noch wenige übrig, die man aber vielleicht schon Jahrzehnte kennt und die vor allem emotionale und soziale Unterstützungsfunktionen leisten. Wenn Sie einmal ans höhere Alter denken, dann können Freunde auch durchaus etwas kompensieren, beispielsweise, wenn der Partner nicht mehr da ist. Dann können Freunde auch wieder existenziell wichtige Funktionen erfüllen.
Gibt es konkrete Zahlen, wie viele Freunde man im Durchschnitt hat oder haben sollte?
Wir haben dazu eine Meta-Analyse durchgeführt und gesehen, dass die durchschnittlichen Zahlen je nach Lebensalter schwanken. Aber sie sind individuell auch ganz unterschiedlich. Ich denke, solche Zahlen ohne den genauen Kontext zu kommunizieren, würde zu Missverständnissen führen. Wer beispielsweise 800 Facebook-Freunde hat, hat eben 800 Online-Kontakte, die man nicht als Freunde bezeichnen sollte. Ich denke, eine Handvoll guter Freunde oder etwas weniger, das ist schon sehr gut.
Dann gibt es ja auch gute und weniger gute Freunde. Es gibt Freunde, die einem näher stehen oder nicht so nahestehen – da gibt es eine erhebliche Variabilität. Und die hängt auch immer von der Persönlichkeit ab. Ich betrachte das Freundschaftsthema ja als Persönlichkeitspsychologe. Und Personen, die ein höheres Anschlussmotiv haben, also ein höheres Motiv haben nach sozialen Kontakten, die haben vielleicht mehr Freunde als andere. Andere brauchen vielleicht weniger Freunde.
Daher kann man nicht pauschal sagen, wie viele Freunde man haben muss. Es muss jeder Mensch für sich selbst herausfinden. Auf jeden Fall ist es so, dass einem Menschen, der überhaupt keine Freunde hat, etwas im Leben fehlt, gerade im Jugendalter. Besonders Jugendlichen ohne Freunde fehlt ein Meilenstein in der Entwicklung, was wirklich Anlass zur Sorge gibt. Ob jemand aber drei, fünf oder zehn Freunde hat, das spielt keine Rolle.
Wie findet man denn am besten Freunde, wenn man keine hat?
Die muss man sich gar nicht so aktiv suchen, die sind meist einfach da. Man lernt ja Freunde dort kennen, wo man sich aufhält: in der Universität, in der Schule, in der Peer-Group. Und da gilt die Regel: Gleich und gleich gesellt sich gern. Und wenn man an der Universität ist, trifft man automatisch auf Personen, die so ähnlich drauf sind wie man selbst oder, mit anderen Worten, die vergleichbare oder ähnliche Interessen haben. Das garantiert zwar noch nicht, dass man sich mit ihnen anfreundet, aber das bereitet schon mal einen Boden dafür.
Dabei spielt Ähnlichkeit in Bezug auf Alter, Geschlecht, Bildung und zum Teil auch Persönlichkeit eine Rolle. Studien haben gezeigt, dass es dabei nicht so sehr auf die objektive Ähnlichkeit ankommt, sondern vor allem auf die subjektiv wahrgenommene Ähnlichkeit. Man fühlt sich vom selben Schlag wie die Person gegenüber, und deswegen gibt es diese Anziehung. Also „gleich zu gleich gesellt sich gern“ stimmt auf jeden Fall eher als „Gegensätze ziehen sich an“. Und dasselbe gilt auch auf dem Partnermarkt.
Sie sagten bereits, dass Freundschaften wandelbar sind. Kann aus Freundschaft auch Feindschaft werden, bzw. wann sollte man eine Freundschaft beenden? Oder anders gefragt: Wie kann aus einer Feindschaft eine Freundschaft werden?
Die letzte Frage ist ja besonders hier in Jena interessant, wenn man an die Freundschaft zwischen Schiller und Goethe denkt. Die waren sich zunächst nicht ganz grün und Schiller hat sich sehr despektierlich über Goethe geäußert, bevor sie sich dann anfreundeten. Das geschah auch, indem sie ihre Rivalität und Konkurrenz überwanden. Trotz ihrer geteilten intellektuellen Interessen waren sie bereit, die Verschiedenheit zwischen sich anzuerkennen und zu akzeptieren. Schiller sagte später dann ja auch über diese Freundschaft, dass sie den Charakter von Liebe habe. Beide haben ihre Feindschaft, Rivalität und wechselseitige Skepsis überwunden und sind aus dem Bewusstsein der Freiheit heraus Freunde geworden. Ihre Freundschaft zählt zu den bedeutendsten der deutschen Geistesgeschichte.
Also eine Transformation von Hass, Rivalität und Misstrauen hin zur Liebe. Das sind schon starke Emotionen.
Freundschaften sind im Prinzip instabiler als Verwandtschaftsbeziehungen, Eltern-Kind-Beziehungen oder Geschwister-Beziehungen, weil sie sehr stark auf der Reziprozitätsregel beruhen. Wenn das nicht mehr funktioniert mit dem Geben und Nehmen und deswegen Konflikte auftreten, dann werden Freundschaften beendet. Familienbeziehungen können so etwas eher tolerieren und tun das in der Regel auch. Da gibt es dann wieder andere Probleme.
Aber Freundschaften werden nicht einfach so aufgegeben. Manchmal verliert man sich schlicht und einfach aus den Augen. Das hängt damit zusammen, dass man ja auch wechselnde Aufgaben im Leben zu erfüllen hat, etwa Familiengründung oder den Berufseinstieg. Das verändert das soziale Netzwerk. Viele junge Erwachsene, wie unsere Studierenden hier, stehen unter einem hohen Mobilitätsdruck. Die haben zwar ihre Freundschaften vor Ort, aber müssen möglicherweise an einen anderen Ort ziehen, um eine Arbeit zu finden. Dann verlieren sie sich aus den Augen. Aber einige Freundschaften überdauern – und das sind die besonders wichtigen, die auch über Distanzen hinweg gepflegt werden können.
Und sich über Jahre halten, über einen längeren Zeitraum.
Genau. Und dann gibt es auch immer wieder mal Pausen, dann nähert man sich wieder an. Es sind aber natürlich Beziehungen, die gepflegt werden müssen, weil sie eben nicht gegeben sind, wie etwa Familienbeziehungen. Freundschaften erwirbt man und wegen der Freiwilligkeit und der Gegenseitigkeit muss man sie pflegen.
Was heißt das denn ganz konkret? Wie erhalte ich mir eine Freundschaft?
Indem ich den Kontakt immer wieder suche, persönliche Treffen initiiere und den Austausch aufrechterhalte. Das ist an sich ziemlich einfach und banal, aber so ist es nicht. Man muss schon etwas dafür tun.
Es geht also nicht nur darum, meine Befindlichkeiten zu kommunizieren, sondern auch den anderen zu fragen, wie es ihm geht und sich wirklich beidseitig austauschen zu können. Das bringt mich zur nächsten Frage: Wann merkt man, dass eine Freundschaft keine Freundschaft mehr ist oder man sie vielleicht auch beenden sollte, weil sie nicht gut tut?
Wir wissen gar nicht, ob das wirklich so ist, dass Freundschaften einem nicht guttun können. Ich denke, der Regelfall ist der, dass man sich einfach so aus den Augen verliert. Freundschaften bewusst beenden, das tun wir dann, wenn es schwerwiegende Konflikte gibt oder schwerwiegende Kränkungen, die nicht überwunden werden können. Und dann ist es ja auch eine Art der Befreiung. Dann löst man sich ja aus einem Verhältnis, das zu einer Last oder einer Art Verpflichtung geworden ist und wo die Freiwilligkeit und die Freude an der Beziehung nicht mehr gegeben sind. Und dann sollte und kann man sie auch beenden, natürlich. Das ist in dem Wesen der Freundschaft enthalten. Und das ist bei Familienbeziehungen eben schwieriger.
Natürlich ist das auch bei Familienbeziehungen möglich. Aber dass selbst extrem konfliktreiche oder unausgewogene Familienbeziehungen beendet werden, ist eher sehr selten, verglichen mit Freundschaften. Denken Sie beispielsweise an Eltern und Kinder: Wie viel investieren Eltern in ihre Kinder, ohne etwas zurückzubekommen? Wenn es gut läuft, bekommen sie vielleicht am Ende ihres Lebens etwas zurück, wenn sie selbst alt sind und die Kinder in eine andere Rolle kommen. Das besagt der Generationenvertrag oder so funktioniert das Prinzip der aufgeschobenen Reziprozität vielleicht. Aber so etwas sehen wir bei Freundschaften nicht. Außer, wenn sie so intensiv, so intim werden, dass sie den Charakter einer Wahl-Verwandtschaft haben.
Wenn es aber nicht gut läuft, die Konflikte überhandnehmen und nicht überwunden werden können, was würden Sie denn dann sagen: Sollte man das bewusst im Sande verlaufen lassen oder sollte man bewusst konfrontieren? Kurz gesagt: Sollte man versuchen, sich auszusprechen?
Ja, man sollte in engen Beziehungen immer bereit sein, sich auseinanderzusetzen und auch Konflikte nicht scheuen. Die können ja auch dazu führen, dass man wieder näher zusammenkommt und eine Distanz oder eine Hürde, die zwischen beiden ist, überwindet. Man kann an Konflikten wachsen, das zeigt die Forschung auch. Dazu würde ich immer raten. Allerdings bin ich kein Freundschafts-Coach, ich bin Wissenschaftler. Das muss jeder im praktischen Leben selbst herausfinden.
Es scheint so, als seien Freundschaften etwas sehr Persönliches. Aber kann es auch Freundschaften zwischen Städten, Ländern oder Universitäten geben? Neulich hat Israel Joe Biden als den besten Freund betitelt, den Israel jemals hatte. Wie kann das sein? Gibt es solche Freundschaften oder ist das ausgeschlossen?
Ich habe jetzt nur über Freundschaft als persönliche Beziehung gesprochen, die nicht durch soziale Rollen definiert ist, sondern durch die persönliche Geschichte, die ihre Beteiligten haben und ihre Persönlichkeiten, die sie mit einbringen. Wenn man jetzt zwischen Städten, Institutionen oder Ländern Freundschaften schließt, dann hat das eine ganze andere Dimension. Dann ist es sicher auch freiwillig auf der einen Seite – auf der anderen Seite basieren aber solche institutionellen Beziehungen auf einem Vertragswesen. Da gibt es Regeln, die eingehalten werden müssen, damit es funktioniert. Und es könnte auch sein, dass wenn diese Regeln nicht eingehalten werden, diese Freundschaften auch obsolet oder beendet werden, davon gehe ich aus.
Aber ich würde nicht so weit gehen, die Regeln der Freundschaft zwischen Personen auf Freundschaften zwischen Gruppen oder Ländern zu übertragen. Ich als Beziehungsforscher kann nicht sagen, wie das zwischen Ländern oder zwischen Städten ist. Da müsste man Soziologen oder Politikwissenschaftler fragen. Aber ich weiß, dass der Begriff der Freundschaft dort auch angewendet wird. Vermutlich, weil damit auch assoziiert und signalisiert werden soll, dass es eine positive Beziehung ist, die auf Freiwilligkeit beruht. Aber ich würde denken, dass das explizite Regelwerk da sehr viel bedeutsamer ist als bei Freundschaft im Sinne einer persönlichen Beziehung. Denn dort ist das Regelwerk ja eher ein implizites.
Solche Universitäts-Partnerschaften oder -Freundschaften zeichnen sich ja durch einen Austausch von Studierenden aus, die dabei oftmals Ländergrenzen überwinden. Da geht es einerseits tatsächlich um die Zahlen, also wie viele kommen und wie viele gehen, damit das ausgeglichen bleibt. Aber andererseits entwickeln sich vor Ort vielleicht tatsächlich Freundschaften fürs Leben.
Genau. Da müssen natürlich alle einen Benefit haben. Aber das gilt ja für Freundschaften als persönliche Beziehungen auch: Es muss ja einen Nutzen haben für beide. Und der ist dann gegeben, wenn diese Gegenseitigkeit besteht. Das kann man aber für Partnerschaften auch zeigen. Die Beziehungen sind dann stabil, wenn schon viel investiert wurde – nicht nur materiell, sondern auch emotional – und wenn keine attraktiven Alternativen da sind. Und so ist es vermutlich auch bei Institutionen.
Das heißt, wenn ein Freund vorbeikommt, der mir mehr bietet, dann beende ich die eine Freundschaft und fange die neue an?
Ja, das könnte so sein. Aber man sitzt ja nicht da und rechnet das ganz rational aus – in Beziehungen ist das natürlich nicht so. Da kommt es auf die subjektive Wahrnehmung des Nutzens an. Und der berechnet sich nicht in Euro oder ähnlichem, sondern in emotionaler und sozialer „Währung“. Das ist bei Partnerschaften auch so – natürlich. Da geht es ja auch nicht nur darum, dass es ständig toll ist und die Partner auf einer rosa Wolke schweben. Sondern es geht darum, was man investiert hat. Partnerschaften sind zum Beispiel stabiler, wenn Kinder da sind.
Was gibt es noch von Ihrer Seite zu ergänzen?
Es hängt sehr stark von der Persönlichkeit ab, wie Freundschaften laufen – indem wir uns Freundschaften suchen, sie gestalten und unsere Persönlichkeit mit einbringen. Und gerade bei jungen Erwachsenen – das wurde in anderen Studien auch schon gezeigt – ist es so, dass sich die Persönlichkeit durch Freundschaften gar nicht stark ändert. Es ist umgekehrt so, dass es von der Persönlichkeit abhängt, wie sich Freundschaften über die Zeit hinweg entwickeln. Das heißt, es kommt auf immer auf uns selbst an.
Foto: Marco Körner / Universität Jena